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Auf der Höhe des Sommers - der Lachs der Weisheit

Lughnasad
Foto: C. Süssenbach

Sonne und Sommerhitze, Urlaub und Strandleben, eine Auszeit vom Alltag, sich entspannen und loslassen – das ist der August.

August – das bedeutet aber auch: Erntezeit, Mähdrescher, die bis in die Nacht ihre Runden auf den Feldern drehen, Hauptsaison für alle, die in den Urlaubsregionen arbeiten, mit langen Tagen und kurzen Nächten.

Wenn ich auf den Kreislauf des menschlichen Lebens schaue, dann ist der August die Lebenszeit etwa zwischen 30 und 45, die Rushour des Lebens. Unsere Aufmerksamkeit kreist darum, Früchte reifen zu lassen. Wir investieren Zeit und Energie, um uns beruflich weiterzuentwickeln und unsere Karriere voranzutreiben. Viele bekommen Kinder und geben alles, um diese auf ihrem Weg in das Leben gut zu begleiten. Zwischen Beruf und Familie können die Tage oft gar nicht lang genug sein. Wenn ich an diese Lebensphase denke, dann erinnere ich mich an Tage, an denen ich abends, wenn ich meine Kinder ins Bett gebracht habe, erschöpft neben oder auch im Kinderbett eingeschlafen bin, um dann nach einer Stunde wieder aufzuwachen und noch ein, zwei Stunden am Schreibtisch oder mit dem Bügeln der Wäscheberge zu verbringen.

Zum Glück sind die körperlichen und seelischen Kräfte in dieser Zeit noch in Fülle vorhanden. Aber das muss nicht so sein. Immer mehr Menschen machen in dieser Phase erste Erfahrungen von Burnout und Erschöpfungszuständen, weil sie alles und noch mehr geben. 

 

Am 1. August wird im keltischen Jahreskreis das Fest Lughnasad gefeiert. Gefeiert wird der Beginn der Erntesaison mit ihren ersten Früchten. Lughnasad ist das Fest, das uns einlädt, die Früchte unseres Tuns zu feiern und zu genießen. Es ist ein Fest, das uns aber auch daran erinnert, dass es gut ist, auf dem Höhepunkt des Lebenssommers innezuhalten und sich behutsam einzuüben in die Kunst des Loslassens. Noch lebe ich in der Fülle, doch vielleicht wird es Ziele geben, die ich nicht erreichen werde und nicht erreichen muss?  Davon erzählt die Geschichte, die ich dir in der Mitte des Sommers mit dir teilen möchte - die irische Geschichte vom Lachs der Weisheit.

 

Der Lachs der Weisheit
Foto: Wikipedia Commons

Der Lachs der Weisheit

Finegas war der größte Dichter und Barde seiner Zeit.  In den Festhallen der Fürsten und Könige liebte man seine Lieder und Gedichte. An der Tafel des Hochkönigs von Tara war Finegas ein gern gesehener Gast. Er erhielt den Ehrenplatz neben dem König, man servierte ihm nur die besten Stücke des Festtagsbratens und sein Becher wurde nie leer. Und wenn Finegas dann seine Harfe nahm und seine Lieder sang, von den stolzen Kriegern und den schönen Frauen Irlands, dann öffneten sich die Herzen und die ganze Festgesellschaft lauschte tief ergriffen. Nur ab und zu war ein tiefer Seufzer aus der Kehle eines heranwachsenden Mädchens zu hören, das glaubte, dass sie nie wieder einem anderen Mann ihr Herz schenken könnte als diesem göttlichen Sänger. 

Nun, Finegas hatte also alles, was ein Dichter sich nur wünschen konnte: Ruhm, Reichtum und Bewunderung. Doch in seinem Herzen blieb trotz allem ein kleiner, leerer Fleck, der mit den Jahren immer größer wurde: Hatte er wirklich alles erreicht? Gab es da nicht noch mehr?

Ja, er war ein begnadeter Poet – doch er wollte Worte finden, die die Welt veränderten. 

Ja, er war ein virtuoser Harfenspieler, doch er wollte Melodien spielen, die nicht nur Könige, sondern die Götter zum Weinen brachten. 

Ja, er hatte alle Geschichten und Weisheiten Irlands gesammelt und trug sie in seinem Herzen, aber hatte die Welt nicht noch viel mehr Weisheiten zu bieten?

Unter den vielen, vielen Geschichten, die Finegas gesammelt hatte, war auch die alte Geschichte vom Lachs der Weisheit. Am River Boyne – so erzählten die Alten – gab es eine Stelle, an der sich das Wasser zu einem Teich sammelte. Am Ufer wuchs einst, vor unendlich langer Zeit, ein magischer Haselnussstrauch, dessen Nüsse die Weisheit der ganzen Welt enthielten. Eines Tages sei ein Lachs in diesem Teich herumgeschwommen. Der Herbstwind habe dreimal drei Haselnüsse abgerissen und in den Teich geworfen, wo der Lachs sie sogleich gefressen habe. Nun trüge dieser Lachs alles Wissen und alle Weisheit der Welt in sich. Erkennen würde man den Lachs der Weisheit daran, dass er dreimal drei rote Punkte auf dem Bauch hätte – für jede Haselnuss einen. So hatten es die Alten und Uralten Finegas erzählt. Und einer von ihnen wusste  von einer Prophezeiung: Eines Tages würde ein Mann namens Finn kommen und den Lachs fangen und all seine Weisheit erlangen.

Finn oder Finegas – das war doch fast dasselbe, dachte sich Finegas und je älter er wurde, desto mehr war er beseelt von dem Wunsch, diesen einen Lachs zu fangen. Immer häufiger schlug er die Einladungen in die Festhallen aus und zog sich schließlich ganz zurück an den River Boyne, um dort auf den Lachs der Weisheit zu warten. Denn er wusste: Wie alle Lachse, würde auch dieser Lachs eines Tages an den Ort seiner Geburt zurückkehren. Meilenweit würde er flussaufwärts schwimmen, jeden Felsen und jede Stromschnelle überwinden. Irgendwann würde er ankommen an dem kleinen Teich im River Boyne und dann würde er – Finegas – dort auf ihn warten.

So vergingen die Jahre. Finegas fing so manchen Lachs, doch keiner davon war der Lachs der Weisheit mit den dreimal drei roten Punkten auf dem Bauch. 

 

Eines Tages – als Finegas wie so oft nach den Reusen schaute, die er überall im Fluss angelegt hatte - stand auf einmal ein Junge vor ihm. Er war dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre alt, groß gewachsen, mit hellem blondem Haar und neugierigen Augen.

„Bist du Finegas, der Barde?“, fragte der Junge.

„Wer will das wissen?“, antwortete Finegas, wenig erfreut über die Störung. 

„Mein Name ist Demne“, sagte der Junge. „Ich habe die letzten drei Jahre bei den größten Kriegern dieses Landes verbracht. Ich habe gelernt, zu kämpfen und das Schwert zu gebrauchen. Doch ich habe auch gelernt, dass das Wort die mächtigste Waffe ist, die es gibt. Deshalb bin ich zu dir gekommen, um die Kunst der Worte zu lernen. Ich bitte dich, nimm mich in deine Dienste und lehrte mich alle Geschichten, Gedichte und Lieder, die du kennst.“

Es war nicht gerade wenig, was Demne da verlangte, doch Finegas fand Gefallen an dem Jungen. Und so blieb Demne bei Finegas und der Barde lehrte den Jungen alle Geschichten und alle Poesie, die er kannte. Natürlich erzählte er ihm auch immer und immer wieder vom Lachs der Weisheit und seiner eigenen langen Suche nach diesem einen, einzigartigen Fisch.

 

Nun, was soll ich euch erzählen? Es war ein schöner Tag in der Mitte des Sommers, als das lang Erwartete tatsächlich ganz unerwartet geschah. Mit seinem eigenen Speer fing Finegas den gewaltigen Fisch und er wusste sofort, dass es der Richtige war. Neun rötlich-braune, nussförmige Flecken leuchteten auf dem Bauch des Tieres. Mit zitternden Händen reichte Finegas dem Jungen den Fisch: Hier, nimm! Du musst ihn für mich zubereiten. Aber komm nur ja nicht auf die Idee auch nur einen einzigen Bissen davon zu kosten!

Der Junge tat, was Finegas ihm aufgetragen hatte. Gleich an Ort und Stelle nahm er den Fisch aus, steckte ihn auf einen Holzspieß und briet ihn über dem Feuer. Und obwohl der gebratene Fisch herrlich duftete, hätte er es niemals gewagt, davon zu kosten. Dieser Lachs gehörte allein Finegas, von dem er so viel gelernt und von dem er so viele herrliche Geschichten gehört hatte. 

Demnes Gedanken gingen auf Wanderschaft. Was mochte der Lachs der Weisheit alles erlebt haben in den vielen Flüssen und Seen, durch die er in all den Jahren geschwommen war...? 

Und da war es auch schon  geschehen: Der Junge hatte geträumt und vergessen, den Spieß zu drehen und schon hatte sich eine dicke Brandblase in der Haut des Lachses gebildet. Eilig versuchte er die Blase mit seinem Daumen flachzudrücken. Autsch, war das heiß!

Als der Fisch endlich gar war, trug er ihn vorsichtig zu der kleinen Hütte, in der Finegas schon ungeduldig wartete. Doch als dieser den Jungen kommen sah, sah er sogleich auch die Veränderung. Der Junge hatte schon immer kluge Augen gehabt, aber nun war da ein Leuchten, das zuvor nicht da gewesen war. 

„Hast du etwa von dem Fisch gegessen?“, rief Finegas.

„Nein, Meister, das würde ich niemals tun. Ich habe ihn nur zubereitet, so wie du es mir gesagt hast.“

„Hast du vielleicht ein klitzekleines Bisschen von der knusprigen Haut gekostet?“, fragte der Barde, der langsam zu ahnen begann, dass er nie in den Besitz der ganz großen Weisheit kommen würde.

„Nein, Meister, auch das nicht. Ich habe rein gar nichts von dem Lachs gegessen. Da war nur diese Blase, die sich irgendwie in der Fischhaut gebildet hat. Ich habe versucht sie wegzudrücken und mir dabei den Daumen verbrannt. Den habe ich dann ganz kurz in den Mund gesteckt, um den Schmerz ein wenig zu lindern.“ Die Röte stieg dem Jungen ins Gesicht, als der das sagte. Schließlich war er ja schon groß und kein kleines Baby mehr, das am Daumen lutschte.

Finegas seufzte tief. Nun war ihm klar, was geschehen war. Ein klein wenig von dem Öl des Lachses war am Daumen des Jungen hängengeblieben und das hatte gereicht, um ihm alles Wissen dieser Welt und obendrein noch die Gaben eines Sehers und eines Heilers zuteilwerden zu lassen. Sein Lebensziel, sein Glück, dem er so lange nachgejagt hatte, war ihm entwischt und diesem Jungen zuteil geworden, der von solch einem Geschenk niemals zu träumen gewagt hatte.

„Lass mich raten“, sagte Finegas. „Dein Name ist gar nicht Demne, oder?“

„Nun, Demne ist der Name, den meine Mutter mir gegeben hat“, antwortete der Junge. „Doch die Krieger, die mich in der Kunst des Kämpfens unterwiesen haben, haben mich Finn genannt, was so viel wie…“

„…wie der Helle bedeutet – wegen deiner blonden Haare, ich weiß“, vollendete Finegas den Satz. „So erfüllt sich die alte Prophezeiung nun an dir und nicht an mir.“

„Aber ich bin doch kein bisschen weiser als zuvor“, widersprach Finn mit schlechtem Gewissen.

„Steck noch einmal deinen Daumen in den Mund“, meinte Finegas.

Da steckte Finn den Daumen in den Mund und tatsächlich sah er auf einmal seine eigene Zukunft klar vor sich liegen. Und so blieb es von nun an. Wann immer Finn nicht weiter wusste, steckte er seinen Daumen in den Mund und sogleich konnte er mehr und tiefer sehen als sonst ein Mensch.

Und Finegas, der Barde? Nun, vielleicht hatte er in all den Jahren des Wartens dort am River Boyne doch mehr Weisheit erworben, als er selbst ahnte. Er ließ seinen Traum los.

„Geh in Frieden, aber geh“, sagte Finegas. „Denn es gibt nichts, aber auch gar nichts, was ich dich nun noch lehren könnte.“

 

Da verließ der junge Finn den Barden Finegas und zog hinaus in die Welt. Er wurde ein berühmter Krieger und erlebte zahllose Abenteuer. Er wurde der Anführer der Fianna, einer Schar mutiger und edler Krieger. Unter dem Namen Finn MacCumhaill kennt man ihn in Irland und in Schottland bis auf den heutigen Tag. Und die Geschichten über seine Taten und seine Weisheit werden noch heute an den Kaminfeuern erzählt.

 

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