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Mittsommer unter der Linde

Direkt vor dem Fenster meines Arbeitszimmers steht eine Linde, die nun – zu Mittsommer- zu blühen beginnt. Der süße Duft dringt durch das halb geöffnete Fenster und ich weiß: Jetzt ist der Sommer da!

Ich liebe „meine“ Linde. Wenn der Wind durch die dichten, grünen Blätter streicht, erzählt sie Geschichten von Gerechtigkeit, Liebe und Frieden. Linden hatten schon immer eine hohe Symbolkraft. Sie wurden auf Dorfplätzen oder (wie hier in Neustadt) vor Kirchen gepflanzt – oftmals zu besonderen Anlässen, als Zeichen des Friedens und der Gemeinschaft. Unter Linden wurde gefeiert, getanzt, geliebt und gelacht. 

 

Die Geschichte, wie die Linde zu ihren herzförmigen Blättern kam, möchte ich dir an diesem Mittsommertag erzählen: 

Vor unendlich langer Zeit lebten in einem Dorf zwei junge Männer, die sich beide in das schönste Mädchen der Gegend verliebt hatten. Der eine war ein Bauer mit viel Herz und wenig Geld. Der andere ein Krieger mit wenig Furcht und viel Übermut. Das Mädchen konnte sich aber nur schwer für einen der beiden entscheiden, ja es gefiel ihr sogar recht gut, von zwei Männern umworben zu werden. Die  beiden Männer bemühten sich beide, das Herz ihrer Geliebten zu gewinnen. Sie übertrafen sich gegenseitig mit Aufmerksamkeiten und kleinen Geschenken.

Die Menschen im Dorf schauten sich die Sache anfangs mit Nachsicht, doch dann mit wachsender Ungeduld an. Als die beiden Brautwerber beim Mittsommerfest in eine handfeste Prügelei gerieten, drängte der Dorfälteste das Mädchen, sich doch nun endlich für einen der beiden zu entscheiden.

Die junge Frau mochte beide gleichermaßen und so beschloss sie, die Liebe der zwei auf eine Probe zu stellen. "Ich werde denjenigen zum Mann nehmen, der mir morgen früh das schönste Geschenk überreicht", sagte sie. Als der junge Krieger das hörte, wähnte er sich schon als Sieger. Auf seinen Kriegszügen hatte er reichlich Beute gemacht, darunter einige erlesene Schmuckstücke aus feinsten Gold und Silber.

Der Bauer dagegen besaß weder Silber noch Gold. Traurig setzte er sich am Abend unter die alte Linde, die neben seinem Haus stand. Die mächtige Krone des Baumes und das warme, weiche Holz fühlten sich an wie die bergenden Arme einer Mutter. Und so kletterte der Bauer hoch in den Baum, als wäre er noch ein kleiner Junge. Als er dort in einer Astgabel saß und voller Wehmut an seine Geliebte dachte, fand er in seiner Hosentasche eine kleine Schere. Ohne darüber nachzudenken, begann er eines der Lindenblätter in die Form eines Herzens zu schneiden. Und dann noch eines. Und noch eines. Die ganze Nacht verbrachte er in dem Baum und schnitt Blatt für Blatt und schließlich auch noch die ganze Baumkrone in Herzform. Todmüde schlief er in den frühen Morgenstunden dort in der Linde ein.

Am nächsten Morgen erwartete das Mädchen ungeduldig die beiden Freier. Doch es kam nur der junge Krieger. Er breitet zwei Armreifen und eine Kette aus Gold und mit Edelsteinen besetzt vor seiner Angebeteten aus, dazu noch ein Paar passender Ohrringe. Die junge Frau war entzückt. Doch sie wollte auch dem jungen Bauern eine Chance geben. Als dieser nicht kam, machte sie sich auf den Weg zu seinem Haus. Als sie schon von Ferne die große Linde sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr Herz pochte vor Aufregung und Tränen traten ihr in die Augen. Da erwachte der Bauer und kletterte von seinem luftigen Schlafplatz herunter, noch immer traurig, weil er seiner Geliebten kein kostbares Geschenk machen konnte.

Doch die lief auf ihn zu, umschlang seinen Hals und küsste ihn unter Tränen. In den Herzen der alten Linde hatte sie das große und weite Herz des jungen Mannes erkannt. Noch unter der Linde versprachen die beiden sich ewige Liebe und Treue. Und natürlich feierten sie unter der Linde auch ihr Hochzeitsfest. Es war ein herrliches Fest - ich weiß es, denn ich bin dabei gewesen.  Seitdem ist die Linde der Baum der Liebe und die Form des Herzens trägt sie noch heute in ihren Blättern und in ihrer Krone.

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