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Die Perle, die mit nichts zu vergleichen ist

Beim Immrama Tag zur Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche hat uns diese alte Geschichten aus der apokryphen Apostelgeschichte des Thomas begleitet.

Sie erzählt von dem, was vielen von uns im Frühling des Lebens, in der Zeit der späteren  Kindheit und Jugend verloren geht: Die Erinnerung daran, dass wir ein Königskind sind. Und das Wissen um unser wahres, tieferes Selbst.

Diese Erinnerung, dieses Wissen wiederzufinden, ist die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte und der Herbstzeit des Lebens.

 

 

 

Im Morgenland, dort wo die Sonne aufgeht, lebten einst ein König und eine Königin, die hatten zwei Kinder, die sie so sehr liebten wie ein Vater und eine Mutter nur lieben können. 

Die beiden hatten alles, was ein Kind braucht, um an Leib und Seele wachsen und gedeihen zu können. Alle beide trugen sie ein lichtes Strahlenkleid, das gewebt war aus der Liebe ihrer Eltern.

 

Eines Tages riefen die Eltern ihr jüngstes Kind zu sich und sprachen: „Du musst eine weite und lange Reise machen. Du sollst in ein Land gehen, das man das Dämmerland nennt. Dort wohnt mitten im Meer ein schnaubender Drache, der eine Perle bewacht, die mit nichts zu vergleichen ist. Geh und finde die Perle und kehre mit ihr zurück zu uns, dann wirst du zusammen mit deinem Bruder der Erbe unseres Reiches sein.“

Es lag schon alles bereit, was das Königskind für die Reise brauchte: Ein Bündel mit Gold und Silber und seltenen Edelsteinen, dazu ein scharfer Dolch mit einer Klinge aus Diamant. Nur das aus Liebe gewebte Strahlenkleid musste das Königskind auf seiner Reise ins Dämmerland ablegen.

So verließ das Königskind seine Heimat, voller Neugierde und Abenteuerlust. Ein Bote begleitete es noch über die Grenze, doch dann war es auf sich allein gestellt. Es machte sich sogleich auf die Suche nach dem Drachen. Das Ungeheuer war auch bald gefunden. Es schnaubte gefährlich und rollte mit den Augen. Das Königskind beschloss, ganz einfach zu warten, bis der Drache die Augen schließen und einschlafen würde. Es suchte sich eine Herberge in der Nähe des Ortes, wo der Drache lebte und wartete. Doch der Drache blieb hellwach und schaute wachsam umher bei Tag und bei Nacht. Dem Königskind wurde die Zeit lang in der Herberge und es fühlte sich einsam und allein unter all den Menschen des fremden Landes. 

„Ich muss vorsichtig sein“, dachte sich das Königskind. „Ich darf nicht auffallen. Sonst merken die Leute noch, dass ich keiner von ihnen bin. Dann fragen sie mich, woher ich komme und was ich hier will und am Ende ahnen sie noch, dass ich die kostbare Perle suche, und dann hetzen sie den Drachen auf mich.“

Und so begann das Königskind sich genauso zu kleiden, wie die Leute im Dämmerland es taten. Und es begann so zu sprechen, wie die Leute im Dämmerland es taten.

Doch die Dämmerland-Leute waren nicht dumm. Sie merkten, dass da einer war, der anders war als sie. Und sie wussten genau, was sie zu tun hatten. Sie gaben dem Königskind den Wein zu trinken, den sie selbst tranken. Und sie gaben ihm die Speise zu essen, die sie selbst aßen. Da aß und trank das Königskind und vergaß von Tag zu Tag mehr, dass es ein Königskind war. Es lebte wie die Dämmerland-Leute. Es sprach wie die Dämmerland-Leute und benahm sich wie die Dämmerland-Leute. Und irgendwann hatte es seinen Auftrag ganz und gar vergessen. Es war, als wäre es in einen tiefen Schlaf gefallen.

Unterdessen warteten der König und die Königin auf die Heimkehr ihres Kindes. Je mehr Zeit verging desto unruhiger wurden sie. Schließlich schickten sie Boten aus, die Nachricht von dem Königskind bringen sollten.

Als der König und die Königin schließlich erfuhren, was mit ihrem Kind geschehen war, wurden sie traurig. Doch dann fassten sie einen Beschluss: Wir lassen unser Kind nicht im Stich dort im Land der Dämmerung. Und sie schrieben ihm einen Brief:

 

„Von deinem Vater, dem König der Könige. 

Von deiner Mutter, die im Morgenland regiert. 

Von deinem Bruder, dem Zweiten in unserem Reich. 

 

Du, unser Kind im Dämmerland, sei gegrüßt! 

Wach auf! Steh, auf aus deinem Schlaf! 

Und höre, was unser Brief dir sagt! 

Erinnere dich: Du bist ein Königskind! 

Sieh doch, zu wessen Sklave du dich gemacht hast! 

Denk an die Perle, mit der nichts zu vergleichen ist, die du aus dem Dämmerland holen wolltest! 

Erinnere dich an dein Strahlenkleid! 

Du sollst dich wieder mit ihm schmücken, dein Name soll zu lesen sein im Buch der Helden. Du und dein Bruder, unser Stellvertreter, ihr seid doch die Erben unseres Reiches!“

 

Der König versiegelte den Brief und gab ihn in die Klauen eines Adlers, der den Brief ins Dämmerland tragen sollte.

Als das Königskind das Rauschen der Adlerflügel hörte, erwachte es aus seinem Schlaf. Es nahm den Brief, öffnete das Siegel und las.

Als es die Worte seiner Eltern las, liefen ihm Tränen über das Gesicht. Das, was dort stand, wusste es doch tief in seinem Herzen. Wie hatte es nur vergessen können, dass es ein Königskind war? Wie hatte es nur seine Freiheit aufgeben und seine Berufung vergessen können?

Nun wartete das Königskind nicht länger darauf, dass der Drache einschliefe. Es trat dem Drachen entgegen ohne Furcht und ohne Zaudern. Der Drache tobte und schnaubte in seiner Wut, doch das Königskind stimmte ein Lied an von seiner Heimat im Morgenland. Da wurde der Drache müde, die Augen fielen ihm zu, er sank zu Boden und das Königskind konnte die Perle, die mit nichts zu vergleichen ist, ganz einfach aus seinen Klauen nehmen.

 

Mit der Perle kehrte das Königskind heim in das Reich seiner Eltern. Die Kleider der Dämmerland-Leute warf es von sich und den Kittel der Sklaverei ließ es im fremden Land zurück. Und es ging seinen Weg, immer dem Sonnenaufgang entgegen.

Bald schon kamen ihm Boten seiner Eltern entgegen. Sie übergaben ihm das Strahlenkleid, das es einst abgelegt hatte.

Das Strahlenkleid erschien dem Königskind wie ein Spiegel. Es konnte sich selbst darin erkennen und obendrein das Bild des Königs. Es war ihm, als würde das Strahlenkleid ihm etwas ins Ohr flüstern: 

„Ich gehöre noch immer zu dir.

Ich bin groß geworden wie du,

bin gewachsen mit dir und deinen Taten!“

 

Da nahm das Königskind das Strahlenkleid. Und das Strahlenkleid hüllte das Königskind ein und füllte es aus. Und das Königskind richtete sich auf, geschmückt mit der Schönheit seiner Farben. 

So mit Glanz umkleidet lief das Königskind zum Tor des Hofes seines Vaters und seiner Mutter. Die riefen schon von Ferne: Willkommen! Willkommen! Das Tor ist immer offen für dich. Komm herein! Da lief das Königskind zu seinen Eltern und zu seinem Bruder und sie alle nahmen es in die Arme. Und er gab ihnen, was er mitgebracht hatte von seiner Reise: die Perle, die mit nichts zu vergleichen ist.

 

Frei nach dem Perlenlied aus den apokryphen Thomas-Akten

 

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