Die Wochen nach Weihnachten sind lang und dunkel. Jedes Jahr ist das so, aber in diesem Jahr scheinen die dunklen Wochen besonders lang.
Doch Anfang Februar werden die Tage wieder spürbar länger. Das Licht kehrt zurück. Wie gut das tut! Jeden Tag halte ich nun Ausschau nach den ersten Schneeglöckchen, den ersten Winterlingen und Krokussen. Lausche in der morgendlichen Stille, ob ich den Gesang der ersten Vögel hören kann.
Wenn jetzt die Sonne scheint, dann drängt es alle Welt nach draußen. Die Cafés stellen ihre Stühle hinaus und die Menschen halten selig ihre Gesichter in die Sonnenstrahlen – eingepackt in Jacke, Schal und Mütze, mit einer Decke um die Beine gewickelt.
Doch noch ist die Zeit des Winters. Schnee und Glatteis, Sturm und Kälte können jederzeit zurückkommen.
Es ist eine besondere Jahreszeit – wenn der Frühling so spürbar naht, aber der Winter noch nicht bereit ist, den Rückzug anzutreten. Es ist wie ein Ringen, ein Kampf zwischen Altem und Neuem. Ich kenne solche Momente aus meinem eigenen Leben: Etwas Neues kündigt sich an, will wachsen und Gestalt gewinnen, aber noch verharre ich im Alten, noch fehlt der Mut, die Kraft, noch sind Gewohnheit und Bequemlichkeit stärker. Aber das Neue will zur Welt kommen.
Es gibt eine alte Geschichte aus Schottland. Sie ist verbunden mit dem keltischen Fest Imbolc, das am 1. Februar gefeiert wird. Diese Geschichte erzählt von zwei der großen und mächtigen Göttinnen der keltischen Welt, von der Wintergöttin Cailleach und der Frühlingsgöttin Brighde. Es ist eine alte Geschichte, doch sie geschieht jedes Jahr aufs Neue. In dieser Zeit des Erwachens möchte ich sie dir erzählen.
Die Cailleach - sie ist die große, die mächtige Göttin des Landes, so sagen die Leute hoch oben in Schottland. Mit ihrem eisernen Hammer gab sie einst den Bergen und Tälern der Highlands ihre Gestalt.
Den höchsten Berg, Ben Nevis, wählte sie zu ihrem Wohnort. Von dort aus führt sie im Winter ihr strenges Regiment. Ihr langes graues Haar türmt sich zu hohen Wolkenbergen, wenn sie in eisigen Stürmen über das Land zieht. Wenn sie ihre Hand ausstreckt, erstarren Flüsse und Seen.
Von Zeit zu Zeit lässt sie Milde walten und erlaubt ein paar Sonnenstrahlen den Raureif in den Bäumen zum Funkeln zu bringen als wären sie mit Diamanten besetzt. Doch dann wieder verdunkelt sich ihr Gemüt und sie lässt Mensch und Tier, Baum und Strauch die ganze Strenge ihrer Herrschaft spüren. Sie tut das nicht, weil sie böse wäre. Nein, die Cailleach liebt ihr Land. Sie bewahrt den Schlaf der Knospen und Samen tief in der Erde, den diese brauchen, um im Frühling wachsen zu können.
Einst hielt die Cailleach am nebelverhangenen Gipfel des Ben Nevis eine Gefangene versteckt. Brighde, die Göttin des Frühlings. Sie war jung und schön und so lebenshungrig wie Teenager es eben sind. Doch das junge Ding wusste nicht, dass ihre Zeit noch nicht gekommen war. Deshalb hatte die Cailleach sie eingesperrt. Was hätte es auch genützt, wenn Brighde mitten im Winter mit ihrem Lächeln die Knospen der Bäume zum Blühen gebracht hätte?
Die Cailleach hatte einen Sohn, der von ganz anderem Wesen war als sie selbst. Jugend statt Alter, Milde statt Strenge, Wärme statt Kälte – das war Angus Og, der Gott der ewigen Jugend. Wenn die Chailleach ihren eisigen Hammer schwang, dann pflegte Angus sich auf die Grüne Insel im Westen zurückzuziehen. Er wusste, dass es besser war der großen Alten nicht in die Quere zu kommen.
Eines Nachts träumte Angus dort auf der Grünen Insel von dem schönen, traurigen Mädchen hoch in den Bergen Schottlands. Am Morgen erzählte er dem König der Insel von seinem seltsamen Traum: „Wer mag die Schöne sein, die ich da sah?“
„Oh, das kann ich dir wohl sagen“, meinte darauf der König. „Es ist Brighde. Einst wird sie deine Braut und Königin sein und gemeinsam mit dir wird sie regieren, wenn du der König des Sommers bist.“
„Wenn das so ist, dann will ich sofort hinüberfahren nach Schottland und meine Braut befreien!“, rief da der junge Angus und griff entschlossen nach seinem Schwert.
Der König schüttelte bedächtig sein graues Haupt: „Warte noch ein wenig bis das Gras grün wird, mein Junge. Noch regiert der Winter und die See ist rau und stürmisch. Es wäre viel zu gefährlich!“
Doch Angus konnte und wollte nicht warten. Er war jung, er war stark, er war clever und seit seinem nächtlichen Traum brannte die Sehnsucht in seinem Herzen. Deshalb borgte er sich drei sonnige Tage vom August. Du kennst das, wenn es auf einmal schon im Februar ein paar warme, sonnig Tage gibt und die Leute nach draußen strömen und in den Cafés sitzen und ihre Gesichter der Sonne entgegenhalten. Das ist genau dann, wenn Angus Og sich die drei Tage vom August leiht und hinübersegelt über die irische See zu den Ufern Schottlands.
Und tatsächlich, das Meer blieb ruhig, nur eine sanfte Brise kräuselte das tiefe Blau. Als Angus seinen Fuß an Land setzte, erwachten dort, wo sein Mantel die Erde berührte, die Primeln und schauten ihm neugierig hinterher. Er durchstreifte das Land von West nach Ost und von Süd nach Nord um die dunkle Berghöhle zu finden, die er in seinem Traum gesehen hatte.
Endlich kam er zum wolkenverhangenen Ben Nevis. Er fand Brighde und es gelang ihm tatsächlich, sie aus ihrem Gefängnis zu befreien.
Als Brighde hinaus trat aus der dunklen Berghöhle, begann dort, wo ihr Fuß die Erde berührte, der Schnee zu schmelzen. Als sie hörte, dass Angus nur um ihretwillen aus dem Land der ewigen Jugend gekommen war, weinte sie Tränen der Freude. Dort, wo ihre Tränen auf den Erdboden fielen, wuchs eine Handvoll weißer Schneeglöckchen. Und zum ersten Mal ahnte Brighde, dass sie mehr war als eine Gefangene des Winters.
Brighde gewann Angus lieb – was nicht erstaunlich ist. Wer würde ihn nicht lieben - den Gott der ewigen Jugend? Hand in Hand verließen die beiden Ben Nevis. Als sie den See am Fuße des Berges erreichten, streckte Brighde ihre Hand aus, und augenblicklich begann das Eis auf dem See zu schmelzen. Brighde lachte vor Freude und ihr Lachen verwandelte sich in eine Schar kleiner Vögel, die zwitschernd hinauf in den Himmel flogen. Die Sonne schaute neugierig hinter den Wolken hervor und schickte ein paar warme Strahlen über das Land. Die Menschen öffneten die Türen und Fenster ihrer Häuser und riefen: „Der Frühling kommt! Der Frühling kommt“!
Doch auch die Cailleach spürte, dass etwas in der Luft lag. Als sie entdeckte, dass Brighde aus ihrem Gefängnis entkommen war, sprühten ihre eisigen Augen vor Zorn und ein Hagelschauer fegte über das Land. „Wehe euch“, rief sie. „Glaubt nur nicht, ihr hättet mich schon besiegt!“ Sie bestieg ihr graues Sturm-Ross und trieb dunkle Wolken vor sich her. Als Angus das sah, hob er Brighde rasch auf sein weißes Pferd und ritt mit ihr durch die Täler in Richtung Westen zur See.
Vor dem Zorn der Cailleach flohen die beiden Liebenden auf die Grüne Insel. Dort feierten sie Hochzeit und verlebten einige friedliche Tage. Doch dann wuchs in Brighde die Sehnsucht nach ihrem Land und sie bat Angus mit ihr nach Schottland zurückzukehren.
Darauf hatte die Cailleach nur gewartet. Die beiden hatten kaum ihren Fuß an Land gesetzt, da entbrannte auch schon ein erbitterter Kampf. Eisige Stürme jagte die große Göttin über das Land. Bäume wurden entwurzelt, neugeborene Lämmer starben in der Kälte. Die Fischer konnten wochenlang nicht aufs Meer hinausfahren. Die Vorräte in den Kammern wurden immer weniger und bald schon hungerten die Menschen in den Dörfern und Städten.
Brighde hatte Mitleid mit den Menschen. Mit ihrem Zauberstab schickte sie immer wieder wärmende Sonnenstrahlen über das Land. Langsam, ganz langsam begannen die Kräfte der Cailleach zu schwinden. Angus verfolgte sie auf seinem weißen Ross und trieb sie immer weiter hinauf in den Norden. Der gefrorene Erdboden begann zu tauen und die Menschen fingen an, ihre Felder zu pflügen.
Die Herrscherin des Winters spürte, dass ihre Zeit zu Ende ging. Sie zog sich zurück in die Berge an der Küste und beweinte den Verlust ihrer Macht. Als Tag und Nacht die gleich Länge erreichten, zog sie über das Meer hin zur Grünen Insel. Dort trank sie im Morgenlicht von der Quelle der ewigen Jugend und fiel in einen tiefen Schlaf aus dem sie erst im Herbst wieder erwachen würde.
An diesem Tag traten Brighde und Angus ihre Herrschaft an als Königin und König über das Land. Sie durchzogen die Täler und Ebenen vom Süden bis hoch in den Norden. Ihre Liebe zueinander wärmte den Erdboden und das Gras begann zu wachsen. All überall wurde ihr Einzug mit Jubel begrüßt. Amsel, Drossel, Fink und Star überboten einander in ihren Freudengesängen. Die Saat wurde auf die Felder ausgebracht. Die Menschen baten Brighde um eine gute Ernte und sie, die sich ihrer lebenspendenden Macht nun ganz und gar bewusst war, gab reichlich aus ihrem Horn der Fülle.
Angus spielte auf seiner Harfe mit den silbernen Saiten. Der Klang war so lieblich, dass die jungen Mädchen und Burschen ihm in die Wälder folgten. Dort berührte Brighde sie mit zarter Hand, so dass sie sich ineinander verliebten. Und die ersten Küsse, die sie miteinander tauschten, wurden zu Schmetterlingen, die in den blauen Himmel davon flogen.
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